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Netzknoten: während wir alle auf die Nachrichten aus Afghanistan starren und auch sonst viel los ist, in den Medien, gibt das Bezirksamt Friedichshain-Kreuzberg eine Pressemeldung heraus, die eigentlich bundesweit Schlagzeilen machen müsste. Es geht um eine

Repräsentative Umfrage

vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB)
in Zusammenarbeit mit dem Sozialforschungsinstitut infas
aus dem Juni 2021.

Zu den Ergebnissen muss man nicht viel sagen . Es genügt zu zitieren:

“Bürger*innen in Friedrichshain- Kreuzberg sprechen sich für deutlich weniger Autos im Bezirk aus. ”

“Mehr als zwei Drittel der Bewohner*innen wünschen sich, dass in den Kiezen überhaupt keine Parkflächen mehr für private Autos ausgewiesen werden. Mehr als 50 Prozent der Befragten sind sogar dafür, in den Kiezen den privaten Autoverkehr ganz einzustellen.”

“Eine Mehrheit wünscht die Umgestaltung des öffentlichen Raumes, Einschränkungen für private Autos, mehr Platz für den Fahrradverkehr und Fußgänger*innen sowie mehr Grünflächen.”

“Über 80 Prozent der Befragten unterstützten das agile Vorgehen des Bezirksamtes, bei dem Umgestaltungen der Infrastruktur kurzfristig erfolgen und stufenweise ausgebaut und verstetigt werden.”

Urteile

Letzte Woche gab es einige relevante “Netzknoten”, welche unter dem Suchbegriff Bermannkiez nicht sofort gefunden werden dürften. Neue Aspekte ergeben sich, wenn man sie im Zusammenhang betrachtet.

1. Berlin und sein Mobilitätsgesetz

Eine Bilanz nennt es Changing Cities, “eine verheerende Bilanz”. Dieser Begriff “verheerend” dürfte seine Ursprünge darin haben, was geschieht, wenn ein Kriegsheer durchs Land zieht. Dabei ist erstmal gar nicht so viel passiert: Es geht um die Bilanz von drei Jahren Mobilitätsgesetz. Die Pressemitteilung verkündet im Urteil:

Die Berliner Verwaltung missachtet das Gesetz.

Es geht um eine Art der Umsetzung, welche im Volksmund auch schon als “Beamtenmikado” bezeichnet wurde: Wer sich als Erster bewegt, hat verloren. Und dann kommt eine Aussage, die man am Besten nur wörtlich zitiert:

“19 Radfahrende und 19 Fußgänger*innen wurden 2020 getötet – kein einziger dieser Menschen hätte sterben müssen, wenn die von Verkehrssenatorin Günther geführte Verwaltung ihrer Verantwortung nachgekommen wäre.”

Um es deutlich zu sagen: Diesen Vorwurf mögen bitte diejenigen verantworten, die ihn formuliert haben. Immerhin kommt, im Zusammenhang mit diesem grauenhaften Kollateralschaden des Verkehrs, der Begriff verheerend, anders als beabsichtigt, schon wieder seiner ursprünglichen Bedeutung nahe.

Muss man ansonsten dieses Urteil noch kommentieren? Die Medien haben es getan:

taz: 3 Jahre Mobilitätsgesetz: In Schrittgeschwindigkeit

taz: Warten auf die Verkehrswende

Der Tagesspiegel: Verkehrsaktivisten nach drei Jahren Berliner Mobilitätsgesetz ernüchtert

2. Friedrichshain und seine Krautstraße

In einem Nebensatz wird von Changing Cities der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg explizit genannt, um das Urteil, welches ansonsten alle Bezirke mit einbezieht, hier etwas abzumildern. Es wird auf die Pop-Up-Radwege verwiesen, mit denen durch beherztes Handeln aus den Anforderungen der Pandemiesituation Fakten geschaffen wurden. Diese haben auch bereits richtige Gerichte beschäftigt, was aber schon wieder eine Weile her ist.

Damit spannt sich der Bogen auch gleich weiter, zu einem anderen, richtigen Gerichtsurteil, welches in der letzten Woche in den Medien aufpoppte:

Die neue Fußgängerzone in der Krautstraße ist nach einer Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtswidrig. Das bei diesem Thema so engagierte Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg muss die Anordnung rückgängig machen.

XHAIN.NET: Bezirksamt zur Entscheidung des Verwaltungsgerichts

Etwas differnzierter erläutert der Tagesspiegel die Hintergründe. Zumindest umstritten ist die Maßnahme unter den Anwohnern. Der Mieterbeirat hat sich klar und begründet dagegen postioniert.

Der Tagesspiegel: Ärger um die Fußgänger*innenzone in der Krautstraße

Der Tagesspiegel: Anwohner halten Fußgängerzone für „abstrusen Einfall“

3. Kreuzberg und die Zossener Straße

Um es vorweg zu nehmen: Nein.

Die Fälle Krautstraße und Zossener Straße sind nicht vergleichbar.

Bevor die Zossener Straße vor der Markthalle Fußgängerzone werden kann, muss sie von der Verkehrsverwaltung des Senats in der Netzhierarchie herabgetuft werden, sodass sie in die Zuständigkeit des Bezirks fällt. Wenn man Angst hat, dass bereits dagegen jemand prozessiert, was bestimmten Leuten zuzutrauen wäre, so gilt es, dies stichhaltig zu begründen. Bei der Krautstraße bemängelte das Gericht die fehlende “städteplanerische Entscheidung”. Eine fachlich solide Begründung, Abwägung und Entscheidung zur Sperrung der Zossener Straße ist erforderlich, sie ist machbar und sie hätte seit vielen Jahren erarbeitet werden können. Nachweislich – man muss nur auf der de-Webseite der Initiative Leiser Bergmannkiez nachsehen, wie lange die Forderung und ihre Gründe dem Senat bekannt sind. Dass es Anwohner gäbe, die sich gegen eine Sperrung der Zossener wenden, ist hingegen nicht bekannt.

Ja, es handelt sich um Untätigkeit. Soweit wiederum die Bilanz.

Fototermin

Netzknoten: Der Tagesspiegel berichtet vom Besuch von Senatorin Regine Günther bei Bürgermeisterin Monika Herrmann anlässlich der heute begonnenen Arbeiten in der Bergmannstraße und der Eröffnung der geschützten Radfahrstreifen am Kottbusser Damm. Zitiert wird die Senatorin mit den tiefsinnig-zweideutigen Worten: „Friedrichshain-Kreuzberg hat gezeigt, was möglich ist, wenn ein Bezirk etwas verändern möchte.“

Zur Erinnerung: Was nicht möglich ist, hat die Senatorin selber gezeigt, die es in diesem Zusammenhang innerhalb fast einer vollen Legislaturperiode nicht geschafft hat, die Zossener Straße – gerade mal um die Ecke – an den Bezirk zu übergeben.

Nennen wir es Netzknoten

Die öffentliche Diskussion zum Straßenverkehr wächst. Exponentiell könnte man fast sagen, nachdem wir alle gelernt haben, wie es sich mit exponentiellem Wachstum verhält. Für den Fall, dass nicht schon bald wieder die Luft raus ist, habe ich mir vorgenommen, interessante Diskussionsbeiträge zu sammeln und dafür die Kategorie “Netzknoten” angelegt. Mit dem Begriff Netzknoten bezeichnet man im Verkehrswesen Anlagen, wie Straßenkreuzungen, die Wege miteinander verknüpfen. Ich verwende ihn im übertragenen Sinne, für gedankliche Verzweigungen entlang dieses Blogs. Im Idealfall entsteht daraus ein interessantes Netz.

Bisher war ich zurückhaltend mit Verlinkungen, weil ich schon die Erfahrung gemacht habe, dass manche Medien bereits veröffentlichte Artikel später noch verändern, womit im dümmsten Fall auch der Sinnzusammenhang eines Links verloren gehen kann. Aber das kann man riskieren. Ich werde trotzdem nicht jeden Tag die einmal gesetzten Links kontrollieren. Manches ist dann eben Schnee von gestern.

Der Erste Netzknoten

Neben einem Beitrag in der Abendschau, macht der Bergmannkiez beim RBB heute auch Schlagzeilen:

„Der Berliner Bergmannkiez probt die Verkehrswende“

„Kann das Vorbild für Berlins Mobilität der Zukunft sein?“ fragt der RBB, berichtet kurz von den aktuellen Plänen des Bezirks und kriegt dann auch gleich die Kurve zu den Superblocks in Barcelona. Dieses „Vorbild“ scheint immer noch nicht genügend ausgelutscht zu sein.

Spannender als das begleitende, mangels Ortskenntnis mit Allgemeinplätzen angereicherte Interview mit dem jungen Dortmunder Wissenschaftler Martin Randelhoff, der unter anderem auch Barcelona kennt, ist da schon die schlichte Bestätigung vom Leiter des Straßen- und Grünflächenamtes Felix Weisbrich:

„Diese Verbindung nehmen wir aus dem Hauptroutennetz raus.“

Gemeint ist die Route Zossener-Bergmann-Friesenstraße.

Zersiedlungspolitik

Anton Hofreiter, Fraktionsvorsitzender der Grünen im Bundestag, stößt bei einem Interview im SPIEGEL eine sachlich wohlbegründete Debatte über die volkswirtschaftliche und ökologische Nachhaltigkeit von Einfamilienhaus-Neubauten an und begründet dies mit der vernünftigen Sorge um unser aller Lebensgrundlagen. Die ersten Reaktionen darauf, egal ob von Berufspolitikern oder manchen Leserbriefschreibern, sind eine polemische Mischung aus aggressiven, persönlichen Anfeindungen und abdriftenden Pseudo-Argumenten, auf einem Niveau, dass man glaubt, Donald Trump könnte seine Wiederwahl in Deutschland gewinnen. Ach ja – es ist Wahljahr.

Versuchen wir es doch mit sachlichen Fragen und Antworten:

  • Ist diese Debatte – unabhängig vom Klimaschutz – für den Bergmannkiez relevant?
  • Ist es ein Problem, wenn sich andere Leute lieber ein neues Haus mit Garten leisten?

Im Bergmannkiez ist es kaum möglich, auch nur ein einziges Einfamilienhaus zu bauen, aber darum geht es nicht. Vielmehr besteht großräumig ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Flächennutzung und Verkehr. Von der Art, wie wir geographische Räume, also die Erdoberfläche nutzen, hängt es unmittelbar ab, wieviel Verkehr wir verursachen. Die Siedlungsdichte, die Verortung von Funktionen (Wohnen, Arbeiten, Bildung, Freizeit etc.) und die Struktur von Zentren sind die grundlegende und maßgebliche Ursache für Verkehr. Einfamilienhaussiedlungen haben eine geringe Flächeneffizienz und verbrauchen mehr Bruttobauland pro Qudratmeter Wohnfläche, als die meisten anderen städtebaulichen Siedlungsformen. Die Wege werden länger, der Verkehr nimmt zu.

Darüber hinaus hängt es von den erforderlichen Wegen ab, welche Verkehrsmittel wir dafür überwiegend nutzen. Je dezentraler Siedlungsgebiete sind, desto schwieriger und unwirtschaftlicher ist der Einsatz ressourcenschonender Verkehrsmittel (DAS Argument gegen ÖPNV und Fahrrad).

Der Bergmannkiez befindet sich in einer Zone der historischen Stadterweiterungen aus dem 19. Jahrhundert und somit zwischen den Zentren, bzw. dem Siedlungsschwerpunkt Berlins (Berlin ist polyzentrisch) und peripheren Räumen, welche sich für neue Einfamilienhaussiedlungen eignen. Mehr MIV (Autoverkehr) zwischen Peripherie und Zentren, belastet besonders die Umwelt in Quartieren, wie dem Bergmannkiez.

Gleichzeitig werden mit zunehmender Expansion der bebauten Gebiete im sog. Speckgürtel die Wege aller Bewohner des Ballungsraumes länger, wenn sie ihre Freizeit in unzersiedelter Natur verbringen wollen.

Im Endeffekt entsteht nicht nur mehr Verkehr, sondern auch ein verstärktes Bedürfnis der Stadtbewohner, ebenfalls von den radialen Verkehrsachsen, deren Lärm und anderen Umweltbelastungen abzurücken. Die Suburbanisierung verstärkt sich. Eine fatale Rückkopplung!

Und noch ein Keyword für alle, die weiter recherchieren wollen:

15-Minuten-Stadt

Als Suchmaschine empfehlen wir ecosia.org aus Berlin.


Nachlese am 15.02.2020: Inzwischen hat auch der Tagesspiegel einen Faktencheck veröffentlicht und das Thema Verkehr anscheinend übersehen.

Die dritte Dekade

Während wir uns noch zum Neuen Jahr beglückwünschen, ist am gestrigen 8. Januar in der Onlineausgabe der Süddeutschen Zeitung ein Artikel erscheinen, der gleich um den Faktor 10 höher schaltet:

„Zehn Jahre, die entscheiden

Mit diesem Jahr beginnt auch die dritte Dekade des Jahrhunderts – jener Abschnitt, in dem die Weichen für eine bessere Welt gestellt werden müssen. Kann das gelingen?“

Gehört das hier her? So habe ich mich gefragt, als ich den Impuls verspürte, darauf Bezug zu nehmen. Die dörfliche Perspektive dieses Blogs ist bewusst gewählt; der Kiez ist das Thema. Und die Medien sind doch schon voll von diesem Allerweltsthema Klimaschutz, so wichtig es auch ist. Einerseits.

Andererseits passt es, jetzt, nach einer ersten Positionsbestimmung den Betrachtungswinkel vorübergehend noch weiter aufzuzoomen. Global denken … Noch jenseits der Themen mit teilweise existenzieller Dimension, welche die Menschen gerade bewegen, der Corona-Pandemie und der Krise der amerikanischen Demokratie, ist das Klima ohne Frage das mit Abstand bedeutendste. Es wird mit der begonnenen dritten Dekade immer und immer mehr zum Hintergrundbild des alltäglichen Geschehens werden.

Ausschlaggebend, diesen Artikel zu zitieren, war für mich am Ende, dass er mir auch in seiner journalistischen Machart einfach gefallen hat. Die nüchterne, aber hoffnungsvolle Zwischenbilanz, Fakten und Einschätzungen sprechen für sich. Es kommen Experten, zu denen man auch Autor Michael Bauchmüller selbst zählen darf, und die Bundesumweltministerin zu Wort. Welche Wucht die Entwicklung hat, die uns alle bald mit sich reißen wird, auch wenn wir in unserem gemeinsamen Boot kräftig rudern, sollte uns bewusst sein. Da bedarf es keiner grellen Effekthascherei, keiner Katastrophenszenarien und keiner emotionalen Appelle.

Kann gelingen, was gelingen muss? Wenn nicht, sagt Dirk Messner, Präsident des Umweltbundesamtes, mit Blick auf das Ende der Dekade „dann ist es eine andere Welt“, die auf drei Grad Erderwärmung zusteuere. „Dann reden wir über Großunfälle im Erdsystem.“